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Tschernobyl

Sperrzone von Tschernobyl

Ich (Chris) weiß noch, wie ich am 15 Jahrestag der Katastrophe erstmals bewusst von Tschernobyl hörte. Auf vielen Sendern liefen Dokus oder kurze Berichte. Erschreckend und zugleich faszinierend, wie Reporter durch die verwaisten Straßen der evakuierten Orte liefen und Bilder vom Betonsarkophag des Kraftwerks zeigten. Schon damals reizte mich der Gedanke das alles mal mit eigenen Augen sehen zu können. Doch es erschien mir als unmöglich. Zu unwahrscheinlich, zu verboten und vor allem zu gefährlich! 

Heute, 18 Jahre später, standen wir tatsächlich doch in der Sperrzone. Unser 27-jähriger Guide Wladimir arbeitet selbst im Kraftwerk. In Schichten von 3 Tagen mit 4 Tagen Regenerationszeit außerhalb der Zone oder 15 Tage mit 15-tägiger Pause. Was unvorstellbar erscheint: Die neben dem explodierten Block 4 verbliebenden drei intakten Reaktoren wurden noch bis Ende 2000 weiterbetrieben. Und auch heute arbeiten noch etwa 3.000 Menschen im stillgelegten Kraftwerk. Wladimirs Eltern waren früher ebenfalls nach der Havarie über 20 Jahre im Kraftwerk angestellt. Seine Mutter wurde damals aus der weißrussischen Gefahrenzone evakuiert. 

Hotspots in der 30 km Sperrzone

Schon unser erster Stopp in dem völlig verwilderten Dorf Zalissya verschlug uns den Atem. Vor einem verfallenen Kindergarten, zeigte uns Wladimir einen der sogenannten Hotspots. Auf eine Stelle neben dem Eingang tropft regelmäßig Regenwasser, das radioaktiven Staub vom Dach spült, den der Wind immer wieder aufs Neue hier verteilt. Das Dosimeter schlug auf über 13 Mikrosievert pro Stunde (μSv/h) aus. In Deutschland herrschen Normalwerte zwischen 0,06 und 0,14. Im Inneren des Gebäudes normalisierte sich die Strahlung  auf ungefährliche Werte um die 0,3 μSv/h. Doch sobald man die Geigerzähler aus dem Fenster hielt, ertönte das laut piepende Warnsignal. Hier war es noch so eingestellt, dass es beim Überschreiten von 3 μSv/h ertönte. Zurück im Minibus erhöhte Wladimir den Grenzwert auf 9 μSv/h, da es sonst in den nächsten Stunden unaufhörlich gepiept hätte.

Beunruhigend wurde es bei der Fahrt durch den roten Wald. Kurz nach der Explosion zog die Rauchwolke aus Reaktor 4 über diesen Teil des Waldes und verteilte radioaktives Material. Bäume starben innerhalb kürzester Zeit ab, die Nadeln verfärbten sich zunächst rot und fielen schließlich aus. Der Wald wurde gerodet und an selber Stelle vergraben. Der inzwischen neu entstandene Wald wächst hier auf hochgradig kontaminierten Boden. Der Geigerzähler zeigte 14 μSv/h – im geschlossenen Auto! Während der Fahrt!

Wir hielten vor einer großen Freifläche – eigentlich sehr idyllisch. Weite Wiesen, ein paar Bäume, herrlicher Ausblick. Rund um das Kraftwerk trug man insgesamt 300.000 Kubikmeter verstrahltes Erdreich ab und vergrub es genau hier. Ein großer Fehler, wie uns Wladimir erklärte. Denn jedes Jahr dringt die Strahlung 1 cm tiefer in den Boden. Es ist eine Aufgabe für die Zukunft zu verhindern, dass sie nie das Grundwasser erreicht. 

Die Sperrzone ist heute 2.600 Quadratkilometer groß – So groß wie das Saarland. Sie gliedert sich in eine 30-km- und die innere 10- km-Zone. Im äußeren Teil liegt die Strahlung meist auf Normalniveau zwischen 0,1 und 0,3 μSv/h. Die hier niedergegangenen Radionuklide haben eine Halbwertzeit von 30 Jahren und sind somit bereits zur Hälfte zerfallen. Ungefährlich ist es trotzdem nicht, da man immer wieder auf Hotspots treffen kann, mit sehr viel höheren Strahlungswerten. 

Geisterstadt Prypjat

Prypjat, ehemals mit 50.000 Einwohnern größte Stadt des heutigen Sperrgebiets, liegt in der 10-km-Zone. Ein einschneidendes Erlebnis hatten wir im hiesigen Krankenhaus. Erste Opfer, Mitarbeiter des Kraftwerks und Feuerwehrmänner, wurden hierhergebracht. Ein Stück Stoff auf einem Empfangstresen, der ursprünglich zu einer Uniform eines Kraftwerkmitarbeiters gehörte, ließ Wladimirs Geigerzähler mit 70 μSv/h ausschlagen! Im Keller befindet sich noch sämtliche Kleidung aller hier behandelten Opfer. Sie strahlt bis heute noch mit über 1.700 μSv/h. Ihre Besitzer waren Strahlendosen zwischen 10.000 und unglaublichen 10.000.000 μSv/h ausgesetzt. Der Kellerzugang wurde inzwischen verschüttet. Wladimir erzählte uns, dass es trotzdem immer wieder Menschen gibt, die sich über andere Wege Zugang zum Keller verschaffen. Unfassbar! 

Durch den Asphalt auf dem zentralen Platz am Ende der Lenin-Allee haben sich in den letzten 33 Jahren gewaltige Pappeln gebohrt. An und in vielen verlassenen Gebäuden sieht man immer wieder kleine Graffitikunstwerke. Das Dosimeter zeigte 5 bis 8 μSv/h. Immer wieder zeigt uns Wladimir bilder aus den 70er- und 80er-Jahren und hielt sie entweder vor verlassenen und verfallene Gebäude, oder schlicht vor einen Wald. So auch hier. Das Dickicht lässt nicht mehr ansatzweise erkennen, dass es sich bei diesem Ort mal um ein Fußballfeld handelte. Lediglich die Tribüne am “Waldesrand” lässt noch darauf schließen, dass hier einst bis zu 5.000 Zuschauer Sportveranstaltungen beiwohnten.

Es ging weiter durch einen Klavierladen. Die Witterung geht alles andere als pfleglich mit den Instrumenten um. Aufgequollenes Holz und nicht mehr funktionierende Tasten sind das Ergebnis. Direkt dahinter besuchten wir eine alte Reparatur Werkstadt für Fernseher. Stolz zeigte uns Wladimir einen sowjetischen High-End-Röhrenfarbfernseher, durch dessen zertrümmerte Mattscheibe man inzwischen hindurchsehen konnte.

Kurz darauf stieg er mit uns auf eines der höchsten Gebäude Prypjats. Ein 16-geschossiges Wohnhaus. Die Fahrstuhlkabinen hingen schief zwischen zwei Stockwerken und die rostigen Briefkästen standen allesamt offen. Vom Dach aus konnten wir die ganze Stadt überblicken. Alle Plattenbauten waren von hohen Bäumen gesäumt, als hätte es nie so etwas wie Straßen gegeben. Der Blick blieb jedoch unweigerlich am Horizont hängen – Die neue Schutzhülle des Kraftwerks leuchtete genauso weiß, wie die Schäfchenwolken an diesem wunderschönen Sommertag!

Prestige und Fortschritt

Prypjat war Vorzeigestadt. Die Löhne waren attraktiv, die Wohnungen neu und für damalige Verhältnisse gut ausgestattet, Luxusgegenstände waren verfügbar. Leute aus Kiew kamen sogar nach Prypjat zum Einkaufen. Der Arbeitsplatz, das Kernkraftwerk, war quasi direkt vor der Tür. Man genoss hohes Ansehen, wenn man hier arbeitete. Die Atomkraft symbolisierte damals enormes Prestige. Sie suggerierte, dass die Wissenschaft und Technik sämtliche Probleme der Menschheit lösen könne. Weit gefehlt. 

In der Stadt lebten einst 15.500 Kinder. Wir besuchten einen von 16 Kindergärten und eine der 6 Schulen. Ein beklemmendes Gefühl, die verrosteten Bettgestelle und maroden Schulbänke zu sehen, mit dem Wissen, dass auch am Tag nach dem Unfall noch Kinder ein- und ausgingen – Umgeben von lebensgefährlicher Radioaktivität. Die Evakuierung begann erst 36 Stunden später. Spielsachen wurden zurückgelassen. Man dürfe schließlich bald zurückkehren, so hieß es. Und dennoch sitzen etliche Puppen auf Kinderstühlen und warten auf ihre Besitzer, die sie jedoch niemals abholen werden.

Der weltberühmte Jahrmarkt mit Riesenrad und Autoscooter hat etwas Gespenstiges. Der Wind lässt die Fahrgeschäfte quietschend ihre Runden drehen. Als sehnten sie sich danach, dass endlich jemand einsteigt und Spaß hat. Doch Spaß sollte hier niemand mehr haben. Die Eröffnung sollte eigentlich zu den Feierlichkeiten zum 1. Mai stattfinden. Dazu kam es nicht mehr.

Für die, die die Welt gerettet haben

Wir fuhren weiter zum Ursprung der Tragödie. Das Kraftwerk sollte ursprünglich zu einem der größten Kernkraftwerke der Welt mit 8 Reaktoren und einer Kapazität von 8.000 Megawatt ausgebaut werden. Die Reaktoren 5 und 6 waren bereits im Bau. Auch Prypjat sollte mit dem Kraftwerk wachsen und 80.000 Menschen eine Heimat bieten. Stattdessen ist dieser Ort heute eine Geisterstadt und dient unfreiwillig als Mahnmal gegen menschliche Selbstüberschätzung. 

Reaktor 4. Da standen wir nun. Direkt davor. Die Strahlung war niedriger als erwartet. Mit ca. 2 μSv/h natürlich weit entfernt von gesundheitlich unbedenklich, aber im 3 km entfernten Prypjat waren es teilweise deutlich mehr. Das liegt unter anderem daran, dass hier besonders gründich aufgeräumt und der kontaminierte Boden versiegelt wurde. Je mehr man sich dem Sarkophag aber nähert, desto höher die Strahlung. Später sahen wir noch die ferngesteuerten Roboter, die auf dem Dach des Kraftwerks eingesetzt wurden, um hoch radioaktiven Schutt und Graphitblöcke herunter zu schieben. Als diese aufgrund der hohen Strahlung versagten, setzte man Menschen ein. Man nannte sie Liquidatoren, manchmal sogar Bioroboter. In Intervallen zwischen 30 und 60 Sekunden, säuberten sie Schaufel für Schaufel das Dach. Für alle Menschen, die bei der Bekämpfung der Katastrophe und bei den Aufräumarbeiten beteiligt waren, wurde in Tschernobyl ein Denkmal errichtet. Es trägt den durchaus passenden Namen: “Für die, die die Welt gerettet haben”.

Das Duga Radar - Der russische Specht

Es folgte unsere letzte Station, das Duga Radar. Die gigantische bis zu 150 m hohe Stahlkonstruktion war Teil des sowjetischen Raketenabwehrsystems und trotz seiner Ausmaße streng geheim. Schon als wir auf dem Dach in Prypjat standen, sahen wir es deutlich am Horizont aus dem Wald ragen. Auf die Frage, wie so eine kolossale weithin sichtbare Anlage geheim bleiben konnte, sagte uns Wladimir, dass die Einheimischen einfach nicht viele Fragen stellten, da ansonsten der KGB sehr viele Fragen an sie gehabt hätte. Neben dem Radar befindet sich ein ebenfalls geheimer und abgeschirmter Ort, den man Tschernobyl-2 nannte. Hier lebten ausschließlich Militärs, die am Radar tätig waren und deren Familien. Zusammen mit 2 weiteren Anlagen dieser Art, sollten über ein ausgesendetes und durch die Ionosphäre reflektiertes Signal westliche Raketenstarts geortet werden. Gesendet wurde es von einer 60 km entfernten Sendeanlage. Die enormen Antennenmasten des Duga Radars dienten hierbei als Empfänger für die Reflexion des Signals. Hatten sich nun Veränderungen in der Ionosphäre ergeben, war dies ein Indiz für einen Raketenstart auf feindlicher Seite. So blieb ausreichend Zeit, um einen Gegenschlag einzuleiten. Man konnte damit sozusagen über den Horizont spähen. Das dabei ausgesendete Signal störte dabei weltweit den öffentlichen Rundfunk und wurde aufgrund seines hackenden Geräuschs auch russischer Specht genannt. Nach dem Unglück, wurde das Radar aufgegeben und die Sowjetunion verlor ihren strategisch wichtigen Raketenabwehrschild. Man munkelt, dass dies mit einer der Gründe gewesen sein könnte, die letztendlich zum Zerfall der Sowjetunion führten. 

Ein unglaublich spannender Tag ging zu Ende. Um eine außergewöhnliche Erfahrung reicher verließen wir auch etwas nachdenklich die Sperrzone. Wir haben bei der Tour übrigens eine Tagesdosis von 30 μSv aufgenommen, so viel wie bei einem 6-Stunden-Flug.